Moderne und Migration

Hans Glas, Hindustan House, Kalkutta, 1945-46 © Clyde Wedell

Kunst, Design und Architektur der Moderne basieren auf Migration bzw. Fluchtbewegungen aus peripheren Regionen in die Kunstzentren des Westens. Die Wanderung von Ideen und Personen im 19. und 20. Jahrhundert unterscheidet sich grundlegend sowohl von der vorangegangenen vorindustriellen Zeit als auch von der nachfolgenden globalen und digitalen Ära. Migration und Moderne sind zwei Seiten der gleichen Medaille – ohne moderne Technologien wäre es zu keiner qualifizierten Migration gekommen und ohne Migration wäre keine moderne Kunst entstanden.

Charles de Moreau, Gartenfassade des Schlosses Esterházy in Eisenstadt, Ölgemälde von Albert Christoph Dies, 1812 © Wiki Commons
Vorindustrielle Migration: Charles de Moreau, Gartenfassade des Schlosses Esterházy in Eisenstadt, Ölgemälde von Albert Christoph Dies, 1812 © Wiki Commons

Die vorindustrielle Zeit sah kollektive Migrationsbewegungen vor allem bei der Arbeitsmigration, in Auswanderungswellen aus benachteiligten Regionen in Richtung chancenreicherer Zielländer sowie in ethnisch-politisch motivierten Vertreibungen. Individuelle Qualifikationen spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle. Für die Migration im Bereich der Künste gab es nur wenige Pull- und Push-Faktoren. Die Nachfrage nach künstlerischen Leistungen war auf gesellschaftliche Eliten beschränkt und führte zu wenigen punktuellen Berufungen durch Fürsten und Klerus.

Victor Gruen, Northland Shopping Center, Detroit, Michigan, 1951-54 © Gruen Associates, Los Angeles
Migration des Industriezeitalters und der Moderne: Victor Gruen, Northland Shopping Center, Detroit, Michigan, 1951-54 © Gruen Associates, Los Angeles

Das Industriezeitalter brachte seit dem späten 18. Jahrhundert den Aufstieg bürgerlicher Schichten, ein exponentielles Bevölkerungswachstum und einen (technisch und medial radikal beschleunigten) überregionalen Informationsaustausch. So entstand im globalen Westen der mächtige Pull-Faktor einer stark gewachsenen Nachfrage nach technisch-künstlerischen Leistungen. Migrant:innen schufen dabei wesentliche Grundlagen der modernen Kunst. Definierende Faktoren waren überregionale Netzwerke und Prägungen, die Migrant:innen bereits vor der physischen Auswanderung bzw. Flucht erworben hatten. Sie bestimmten den Verlauf, die Chancen und den Impact im Zielland der Migration wesentlich mit. Zusätzlich und im Zusammenhang damit entschieden auch die gegebenen professionellen Möglichkeiten im Zielland über die Laufbahnen von Migrant:innen.

Richard Neutra am Cover des TIME Magazine, 19. August 1949
Breite horizontale Proliferation migrantischer Inhalte in der Moderne: Richard Neutra am Cover des TIME Magazine, 19. August 1949

Schon das grundlegende allgemeine Impact-Potenzial von Migrant:innen auf die Kultur des Ziellandes unterschied sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentlich von jenem der vor- und der nachmodernen Perioden: Vor der industriellen Revolution verlief er top-down von Adel und Klerus bis zum entstehenden Bürgertum, blieb jedoch stets auf gesellschaftliche Eliten und auf exakt abgegrenzte Teilbereiche der Kulturen beschränkt. Das breite, alltägliche Bauen und Gestalten folgte weiterhin den lokalen Handwerkstraditionen, sofern es keiner Expertise von wandernden Fachleuten bedurfte (Steinmetze aus Dombauhütten, Zimmermeister). Im Industriezeitalter entstand durch die technisch beschleunigte Kommunikation und Logistik sowie durch die Medien erstmals eine breite horizontale Proliferation an Inhalten aus den Wanderungsbewegungen, die somit die gesamte Kultur eines Ziellandes durchdringen konnten (International Style der 1930er bis 1960er Jahre). Schließlich werden im digitalen Zeitalter kulturelle Inhalte migrantischen Ursprungs individuell als Bottom-up-Phänomene global verbreitet und unterscheiden sich somit in geringerem Ausmaß von anderen kulturellen Inhalten.

Friedensreich Hundertwasser, Das Schiff Regentag, 1968-74 © hundertwasser.com

Nomadische Migration des postindustriellen digitalen Zeitalters: Friedensreich Hundertwasser, Das Schiff Regentag, 1968-74 © hundertwasser.com

Die Virtualisierung der Information im postindustriellen, globalen und digitalen Zeitalter verleiht der Migration seit der Mitte des 20. Jahrhunderts einen neuen Status. Der physische Standort von Künstler:innen kann nun freier denn je gewählt werden, die einzelnen Wanderungsepisoden sind verkürzt und wechseln in den Biografien einander wesentlich häufiger ab. Anders als in der Moderne ist Migration heute einer von mehreren gleichrangigen Faktoren der Kunstproduktion.

Autor: Matthias Boeckl

Writer, consultant, art & architectural historian